Neue Gefahr für die Demokratie: Escrache

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Die politische Realität in Spanien ist inzwischen derartig pervertiert, dass es nicht einfach ist, es Lesern in anderen Ländern verständlich darzustellen. Doch dies ist wahrscheinlich das aktuell beste Beispiel. Die Madrider Regierung hat eine neue Gefahr für die Demokratie ausgemacht! Sie nennt sich „Escrache“: Dieses Wort ist schwierig zu übersetzen und meint so etwas wie „öffentliche Anprangerung“. Mariano Rajoy rückt diejenigen, die Abgeordneten auf der Strasse ihre Meinung mitteilen, ausdrücklich in die Nähe des Terrorismus und ordnet Polizeigewalt an.

Als die Plattform für Hypotheken-Geschädigte (PAH) vor zwei Monaten ankündigte, man werde sich die Gesichter derjenigen Abgeordneten merken, die 1,5 Millionen Unterschriften ignorieren, wurde das von der konservativen Regierung als „nicht tolerierbare Drohung“ bezeichnet. Gemeint war: Wer das Volksbegehren nach einer Reform der Zwangsräumungsbestimmungen nicht unterstützt, sollte damit rechnen, dass man ihn öffentlich anprangert. So geschah es dann auch, mit ausnahmslos friedlichen Mitteln wohlgemerkt.

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Escrache vor dem PP-Büro in Bilbao: „Wir sind keine Terroristen, wir sind Opfer!“

Vor den Büros und auch vor einigen Privathäusern von Politikern erschienen Gruppen von Menschen mit Spruchbändern und Plakaten. Sie prangerten die fortgesetzten Zwangsräumungen an und forderten den jeweiligen Politiker lauthals und oft bis zur Heiserkeit auf, etwas dagegen zu unternehmen. Diese Art der Meinungsäusserung nennt man „Escrache“, und das ist es, was die regierende Partido Popular als „Gefahr für die Demokratie“ und „unerträgliche Nötigung eines gewählten Volksvertreters“ einstuft und „dem Terrorismus nahe“ sehen möchte. Und weil der Vergleich natürlich auch nicht ausbleiben darf: „Das haben die Nazis damals auch gemacht, in dem sie auf bestimmte Häuser gezeigt haben …“

Ein Vertreter des Innenministeriums wies dann auch die Polizei an, die „Bedroher“ zu identifizieren, die Menge zu zerstreuen und notfalls mit Festnahmen zu reagieren. Escrache sei schliesslich schon damals im Zusammenhang mit den baskischen ETA-Terroristen und ihrer Jugendorganisation „kale borroka“ verfolgt worden. Damit soll die PAH kriminalisiert und die wahre Herkunft des Escrache verschleiert werden, denn dieser Begriff entstand in Argentinien. In Buenos Aires und Montevideo hatten sich damals Menschen vor den Häusern der Unterdrücker versammelt, die für die Diktatur verantwortlich waren und das argentinische Wörterbuch definiert Escrache als „die öffentliche Anklage von Personen, die der Verletzung der Menschenrechte oder der Korruption beschuldigt werden; Sitzstreiks, verbale Parolen oder Spruchbänder vor deren Privathäusern oder an öffentlichen Orten sind ihre Mittel“.

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„Gefahr für die Demokratie“: Escrache als Protest gegen Zwangsräumungen vor dem Büro der Abgeordneten Eva Durán.

Friedlicher, wenn auch lautstarker und deutlich wahrnehmbarer Protest vor den Büros und Wohnungen von Politikern ist also Nötigung, Erpressung und Gefahr für die Demokratie, während dieselben Politiker dafür sorgen, dass ein ganzes Land im Elend versinkt, Tausende zwangsgeräumt werden, Hunderte im Flughafen von Madrid übernachten und die Hälfte aller jungen Menschen arbeitslos und ohne Zukunft sind? Nur gewählten Volksvertretern ist es vorbehalten, die Demokratie legitim zu zerstören, während basisdemokratischer Protest auf der Strasse eine kriminelle Handlung darstellt? Man kann sich bereits jetzt darauf verlassen, dass Escrache bei der in Arbeit befindlichen  Reform des Strafrechts als neuer Tatbestand Berücksichtigung finden wird.


Ganz anschauen! Gewalt und Festnahmen bei Zwangsräumung 5. April in Madrid.

„Escrache“ ist es nur, weil es bisher noch Wenige sind, die sich auf solche Art äussern. Wären es mehr, hätten wir schon den Aufschrei der Revolution, die es mittelfristig sowieso brauchen wird. Natürlich ist die Ansage „Ich merke mir dein Gesicht und weiss, wo du wohnst“ nicht gerade eine Liebeserklärung, doch angesichts der Situation in Spanien ist Escrache geradezu eine Verharmlosung des überfälligen Protests, der sich bisher darauf beschränkt, dass die Erniedrigten in der Krise ihrem Volksvertreter lautstark vernehmlich ihre Meinung mitteilen. Dabei muss es nicht bleiben, wenn die Regierung auf ihrem Lösungsweg „Back to Franco“ besteht.

Überall im Land finden derzeit beinahe täglich Escraches statt – auch heute im Baskenland. Mariano Rajoy sollte solche Aktionen besser als das begreifen, was sie in Wirklichkeit sind:  Die Ruhe vor dem Sturm!

Lesen Sie dazu auch:
* Back to Franco 1
* Back to Franco 2
* Back to Franco 3
* Back to Franco 4

30 Kommentare zu “Neue Gefahr für die Demokratie: Escrache

  1. axgouk sagt:

    … möge der Sturm beginnen …

  2. Statt sich wegen ihrer Parteikassen-Affäre lieber ganz fein zurück zu halten, demonstrieren die Herren und Damen von der PP lieber wieder einmal, unter welchem völlig aus dem Ruder gelaufenen Selbstverständnis sie leiden: „Wir sind die Demokratie. Wer uns angreift, greift die Demokratie an.“ Nein, das wovon sie sprechen, nennt sich tatsächlich Diktatur.

  3. Ramón Rodríguez sagt:

    So ein Escrache ist leicht zu organisieren und kommt mit einem Dutzend Personen aus – auch in Deutschland, so ganz nebenbei erwähnt.

  4. Sven Boernsen sagt:

    … das ist es, was die regierende Partido Popular als “Gefahr für die Demokratie” und “unerträgliche Nötigung eines gewählten Volksvertreters” einstuft und “dem Terrorismus nahe” sehen möchte.

    Auch das Antlitz der spanischen Eliten zeigt sich von seiner erbärmlichsten Seite. Man braucht kein Prophet zu sein. Das Niveau dieser „Eliten“ wird EU-weit noch viel, viel tiefer sinken.

  5. fakeraol sagt:

    Hoffen wir, daß es die Ruhe vor dem Sturm ist, und sowohl ein neuer Franco, als auch die Ablenkung mittels Geheimdienst-„Terrorismus“ und Einschwören des Volkes auf den Krieg gegen einen äußeren „Feind“ keinen Erfolg haben.

  6. Uhupardo sagt:

    Escrache heute Nachmittag vor dem Wohnsitz der stellvertretenden Regierungschefin Soraya Saenz de Santamaría in Madrid: http://ccaa.elpais.com/ccaa/2013/04/05/madrid/1365181459_167470.html

  7. bodenfrost sagt:

    In einer Video-Botschaft wendet sich die PAH an die PP-Wähler und bittet sie um Hilfe und Verständnis für die Aktionsform der „Escrache“. Die Sprecherinnen und Sprecher gehen auch auf die Vorwürfe der der Regierung ein und erklären „wir sind nicht der Feind. Und wir sind schon gar keine Terroristen.“

  8. matrixsun sagt:

    Ich brauch keinen sturm, ist es nicht viel interessanter denen den wind aus den segeln zu nehmen ?

    Wir wissen doch mitlerweile relativ genau, das die wissen was wir wollen und es ihnen scheißegal ist, nein sie setzen sogar noch eins drauf und lassen sich dafür bezahlen, das es exakt in die gegenrichtung verläuft.

    Warum reden wir mit denen überhaupt noch ?
    Warum wählen wir überhaupt noch, obwohl wir wissen das alle geschmiert sind ?
    Warum geben wir ihnen nicht einfach ihr geld zurück und machen unser eigenes und schon sind die aus dem spiel ?

    – wer seine leistung nicht in euro begleicht oder bezieht, der zahlt auch keine steuern. Ach es gibt in der richtung so viele möglichkeiten, man muß sie nur wahrnehmen und anwenden.

    Ich halte mitlerweile gar nix mehr von demo´s, wenn man sich mal in der vergangeheit anschaut gegen was schon alles demonstriert wurde und was es dann anschließend bewirkt hat, sind die ergebnisse niederschmetternd.
    Ist es nicht so das sich die meisten dinge verschlechtert haben ?
    Es ist an der zeit mal drüber nachzudenken ob man nicht die taktik ändern möchte, um endlich mal den weg des erfolges und fortschritts einzulenken.
    Dies beinhaltet natürlich einen ganz neuen denkansatz und zwar von grund auf.

    Ist es nicht auch einfacher sich mit den dingen zu beschäftigen die man anstrebt, anstatt sich mit den dingen zu beschäftigen die man nicht mag ?

  9. Hessenhexer sagt:

    Komisch, wenn sie gewählt werden wollen, soll man sich die Gesichter aber schon merken!

  10. Mark23 sagt:

    „Und wieder mal etwas aus Spanien. Der ziemlich wunderbare Blog „Uhupardo – Das kommt mir spanisch vor“ hält einen dankenswerter Weise stets auf dem laufenden, was in diesem Land so vor sich geht…

    …“
    http://www.politik-sind-wir.de/showthread.php/36107-Sammelstrang-Eurokrise?p=118999&viewfull=1#post118999

    Aha. Herr Rajoy sieht die Demokratie in Gefahr. Er sollte sich mal lieber Gedanken um den Spruch „Orwells 1984 war NICHT als Anleitung gedacht“ machen. „Neusprech“ lässt grüßen.

    Danke für den Beitrag. Habe drüben mal ein wenig Werbung für den Blog gemacht. 🙂

    • Uhupardo sagt:

      „Ziemlich wunderbar“ als deutschsprachiges Maximalkompliment amüsiert uns immer wieder. Gracias für den eigentlich einigermassen genialen Kommentar. 😉

      • Mark23 sagt:

        Über diese Formulierung bin ich beim Korrekturlesen auch gestolpert, aber habe sie schließlich gelassen, weil es mir spontan so entfahren ist.
        Aber eigentlich haben sie mit ihrer Anmerkung ziemlich recht. -)

        • Uhupardo sagt:

          Das passt schon so. Die Hochfrequenz-Relativierung positiver Aussagen dieser Art ist so typisch in der deutschen Sprache, dass es hier oft für Erheiterung sorgt. 😉

  11. Die Angst vor dem Machtverlust treibt die schönsten Blüten aus.
    Wenn dass keine gute Nachricht ist, will ich Madame Guillotine heißen.
    Auch Ludwig von Sonnen-Gnaden konnte sich nicht vorstellen, als bürgerlicher Louis Capet sein Haupt zu verlieren am 21. Januar 1793.
    Interessante Zeiten offenbaren sich uns.

  12. matrixsun sagt:

    So wie es momentan aussieht, ist die demokratie wohl eher eine gefahr für uns.

  13. holzbock sagt:

    „Eigentum schlisst aus!“
    Wenn es um Enteignung geht, höre ich immer das Argument, „die wollen mir doch nur mein Häuschen wegnehmen, für das ich mein Leben lang gearbeitet habe.“ Doch genau darum geht es nicht. Es geht darum, dass das Haus oder die Wohnung den Personen gehört, die darin leben, solange sie darin leben, und nicht irgendeinem Vermieter, der die Wohnung besitzt, um damit Geld zu verdienen – Profit zu machen. Was gerade in Spanien abgeht, passiertz nicht durch Enteignung, sondern durch Anwendung der Gesetze zum Schutz des Eigentums.
    Das Eigentum ist im Kapitalismus per Grundgesetz geschützt, um alle Menschen erst einmal von allem Lebensnotwendigen wie Wohnung, Lebensmittel, Gesundheitsversorgung, … auszuschließen, um alles zur Ware zu machen, zu der man sich erst durch Einsatz des Mittels Geld Zugang verschaffen kann. Damit ist die Grundlage geschaffen, den Großteil der Menschen zu erpressen. Um an Geld heran zu kommen müssen die Menschen, die über keine Produktionsmittel wie Grund, Boden oder Fabriken verfügen, ihren einzigen Besitz – ihre Arbeitskraft – auf dem Markt anbieten. Der Besitzer der Produktionsmittel will Profit machen und wird die Arbeitskraft des Arbeiters nur unter dieser Bedingung benutzen. Ausbeutung ist von vornherein eingeplant, ja Voraussetzung.
    In Europa wirst du nicht mit vorgehaltener Waffe zur Arbeit gezwungen, du kannst dich weigern, mit der Konsequenz, von allem Lebensnotwendigem ausgeschlossen zu sein. Also unterwerfen sich die Menschen „freiwillig“. Und das ist es, was die Argumentation gegen dieses Wirtschaftssystem so schwierig macht, die scheinbare Freiwilligkeit und das scheinbare Mitbestimmungsrecht – Wahlen, Demonstrationsrecht, freie Meinung (allein schn diese Erlaubnis, die eigene Meinung äußern zu dürfen sollte stutzig machen). Und wenn Wahlen etwas verändern würden, wären sie verboten! Man hat ja nur die Wahl zwischen Parteien, aber das Wirtschaftssystem steht nicht zur Wahl.
    Die Abschaffung des Eigentums ist die Grundvoraussetzung um Grundlegend etwas verändern zu können, zum Vorteil von 90% der Bevölkerung, weltweit sogar noch wesentlich mehr.
    Das werden sich die Kapitalisten, die weltweit von den Regierungen ins Recht gesetzt wurden, natürlich nicht gefallen lassen. Sie haben sich zum Schutz dieses perfiden Wirtschaftssystems auch gut gerüstet mit Polizei und Militär. Was man gerade in Spanien beobachten kann ist nur der Anfang. In Deutschland werden gerade die Gesetze zu Gunsten des Einsatzes der Bundeswehr im Inneren geändert. Wofür wohl?
    Aber es gibt noch ein Mittel, das sehr effektiv sein kann – Generalstreik!
    Also „Leute steht auf und bleibt liegen!“ 😉

  14. […] erschienen bei uhupardo […]

  15. […] Bei der Abschlusskundgebung in Madrid forderte ein Sprecher die Versammelten auf, sich auch an den Escraches zu beteiligen. Die Escraches sind eine neue Aktionsform in Spanien, mittels derer versucht wird, Druck auf die Regierung auszuüben, damit diese endlich ein Gesetz gegen Zwangsräumung verabschiedet (ein ausführlicher und lesenswerter Artikel zu diesem Thema gibt es bei Uhupardo). […]

  16. […] Sie dazu auch: * Richter annuliert Hypothek wegen “Zins-Missbrauch der Bank” * Neue Gefahr für die Demokratie: Escrache * EU-Gerichtshof erklärt spanisches Zwangsräumungsgesetz für […]

  17. Uhupardo sagt:

    Die Madrider Landsregierung hat angekündigt, 30 Teilnehmer an Escraches mit Geldstrafen von 300 bis 6.000 Euro belegen zu wollen. Da wegen des friedlichen Verlaufs der Escraches Strafrecht nicht zur Anwendung kommen kann, will man die Teilnehmer wenigstens wegen unangemeldeter Demonstrationen zur Kasse bitten.

  18. So richtig verstehen diese Fascho-Polit-Schurken wahrscheinlich nur noch
    „Politisch Korrekte Molotow-Cocktails“.

  19. […] Regierung enteignet Banken * Richter annuliert Hypothek wegen “Zins-Missbrauch der Bank” * Neue Gefahr für die Demokratie: Escrache * Partido X: Das Programm der neuen spanischen […]

  20. […] nicht wissen, worum es hier geht, lesen Sie bitte unbedingt zuerst unseren Artikel vom 5. April: “Neue Gefahr für die Demokratie: Escrache” – Der Bürgermeister von Torrelavega, Ildefonso Calderón (Partido Popular, Foto), hatte die […]

  21. […] al sistema” (von der Empörung zur Rebellion – wir bereiten dem System ein ‘Escrache‘) finden ab heute Nachmittag in zahlreichen Städten in Spanien Demozüge, Kundgebungen und […]

  22. […] Was sagen Sie zum Ergebnis der Escraches, die Sie gegen PP-Abgeordnete organisiert haben? Ada Colau: Ein voller Erfolg! Bürger begannen […]

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