Live-Bilder: Demonstrationen im ganzen Land zum 2. Geburtstag von 15-M

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Aus verschiedenen Stadtteilen Madrids treffen gerade Demonstranten im Sternmarsch an der Puerta del Sol in Madrid ein. Es ist längst nicht nur der 2. Geburtstag der Bürgerrechtsbewegung 15-M – viel mehr soll auch heute der geharnischte Protest gegen die Massnahmen der Regierung von Mariano Rajoy Vorrang haben, die Spanien ins Elend stürzen. Während die Zinsen für Staatsanleihen wieder auf einem finanzierbaren Niveau angekommen sind und die Börsen steigen, sind inzwischen fast zwei Millionen Familien ohne jedes Einkommen, sechs Millionen Menschen sind arbeitslos.

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Die Antwort: Hola Spanier, hört mal einen Moment zu, bitte!

Sie erinnern sich? Der Titel ist die Parallele zu unserem Artikel vom 4. Februar, der ein Video der spanischen Bügerrechtsbewegung 15-M aus Spanien präsentierte, gerichtet an alle Deutschen. Jetzt gibt es die Antwort aus Deutschland, passenderweise gedreht vor der EZB in Frankfurt.

Beide Videos sind echte Zeitzeugnisse, die die Politiker-Marionetten beschämen sollten. Gracias por la solidaridad, Alemania!

Ganz normal. Völlig krank.

Wissen Sie, was das Frustrierende an diesem Film (die Sendung endet bei 43:34 Minuten) ist? – Nach dem Vortrag von Volker Pispers könnte man sich praktisch alle weiteren Uhupardo-Artikel sparen, egal zu welchem Thema.

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Ergebnis drastischer Sparmassnahmen: Schulden wie noch nie!

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Er ist angetreten, den Staatshaushalt „endlich zu sanieren“. Statt dessen verzeichnen die Kassen jetzt den höchsten Schuldenstand seit 100 Jahren! Nach all den Kürzungen und Streichungen, nach all den drastischen Sparmassnahmen der Regierung Rajoy, sind die Schulden Spaniens 2012 um den Rekordbetrag von 146 Milliarden Euro gestiegen – also um 400 Millionen Euro pro Tag. Damit belaufen sich die Geamtschulden des Landes auf 882 Milliarden Euro angestiegen. Das entspricht 84 Prozent des Bruttosozialprodukts, ähnlich wie in Deutschland. Man muss bis ins Jahr 1910 zurückgehen, um eine ähnliche Zahl zu finden.

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Wandlung eines Hippies: „5 Jahre Banker und keinen Tag länger!“

Indien fasziniert ihn, dort will er leben.  Doch dazu braucht er zunächst Geld.  Also beginnt der 23-jährige in der City of London zu arbeiten, zieht erstmals einen Anzug an.  Er hat keine Ahnung davon, doch das kommt schnell.  Er arbeitet für seine Bank fast rund um die Uhr.  Seine gesellschaftlichen Qualitäten sind ausschlaggebend, das Nachtleben entscheidet über das Geschäft.  Striptease-Bars gehören zum Business. Der Hippie wird zum Investmentbanker. Aber nur fünf Jahre, dann will er Schluss machen.

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„Die Märkte funktionieren derzeit nicht korrekt!“

monti in finnland

Über den Titel des Artikels herrschte heute in der Redaktion ganz breites Schmunzeln.  Gesagt haben diesen Satz Mario Monti und sein finnischer Kollege Jyrki Katainen in Helsinki, als sie über Krisen-Lösungen sprachen: „Die Märkte funktionieren derzeit nicht korrekt!“ –  Je nachdem:  Es kommt wahrscheinlich darauf an, was andere von „den Märkten“ erwarten, und wie „die Märkte“ sich selbst definieren.  Nach dem Selbstverständnis „der Märkte“ funktionieren sie derzeit besser als jemals vorher.  Wer ihnen also Schuld zuweist, hat schlicht das (be)herrschende System noch nicht einmal im Ansatz verstanden.

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System-Crash kommt nach den US-Wahlen

Während alle noch über Griechenland oder Italien reden, schleicht sich ganz langsam das wichtigste Thema auf die Bühne: Keinem Industrieland geht es dreckiger als den USA. Nach den kommenden US-Präsidentschaftswahlen werden sich die Spannungen einer zerrissenen Gesellschaft entladen und zu Aufständen und Krawallen führen. Bis dahin halten alle still, weil sie hoffen, dass ihr Kandidat gewinnt und dadurch alles besser wird.

Erst wenn nach der Wahl klar ist, dass die Politik, unabhängig davon wer gewinnt, keine Lösung bringt, beginnt der Tanz, der sich bisher nur ankündigte: Massenproteste in Madison, Wisconsin, Occupy Wall Street.

Vieles hat dafür gesorgt, dass die USA dort ankamen, wo sie jetzt sind. Der wichtigste Faktor ist das schlechteste Bildungssystem aller Industriestaaten. Die Hälfte aller Erwachsenen können kein Buch auf dem Niveau der achten Klasse lesen. In Detroit liegt die Analphabetenrate bei 44 Prozent. Das sorgt dafür, dass eine Debatte über die eigene Lage und mögliche Lösungen in der Breite gar nicht geführt werden kann.

Komplexe Sachverhalte weichen Schlagwörtern und primitivsten Details: In den Medien und Foren der USA stehen gebildeten Menschen regelmässig die Haare zu Berge. Die ideologisch verkrustete Diskussion auf niedrigstem intellektuellen Niveau ist nicht geeignet, die Situation zu beruhigen oder auch nur zu analysieren.

Dazu kommen steigende Lebensmittelpreise, Arbeitslosigkeit, Armut, Ungleichheit, Zwangsräumungen, Perspektivlosigkeit. Auf dem Arbeitsmarkt ist es besonders dramatisch: 35% der US-Amerikaner arbeiten heute für weniger Geld als in ihrem früheren Job – und müssen froh sein, überhaupt noch Arbeit gefunden zu haben. Trotzdem wollen die Republikaner Gewerkschaften vernichten, weil ein gewerkschaftlich organisierter Arbeiter 200 Dollar mehr verdient als ein nicht-organisierter Kollege.

15 Millionen Hauseigentümer haben Kredite für ihr Haus abzuzahlen, die höher sind als der gegenwärtige Verkaufswert ihres Hauses. 43 Millionen US-Amerikaner sind im Lebenmittelkarten-Programm, jeder Siebte und 16% mehr als vor einem Jahr.

Nach den Zahlen des Amts für Volkszählung ist jedes 5. Kind arm. Es gäbe noch viele Statistiken, die verdeutlichen: Die USA verarmen, und sie verarmen immer schneller. Gleichzeitig sieht die steigende Zahl der Armen das reiche Amerika, das es auch gibt, was soziale Spannungen anheizt: Der Weltkonzern Exxon Mobile und alle Superreichen zahlen wesentlich geringere Steuern als jeder durchschnittliche Arbeitnehmer.

Die anstehenden Haushaltskürzungen auf allen drei Ebenen (Federal, State und Gemeinden) werden die Wut und Verzweiflung in der Bevölkerung noch wachsen lassen, weil die letzten Maschen des jetzt schon dünnen und löchrigen sozialen Netzes auch noch durchschnitten werden.

Im Jahr 2012 werden Proteste und Demos dramatisch zunehmen. Die Medien werden es auf die “Polarisierung durch den Wahlkampf”schieben. Der vermutlich schmutzigste aller US-Wahlkämpfe wird die Lage nur knapp maskieren können. Denn danach, und egal wer gewinnt, werden die sozialen Unruhen, Aufstände und Krawalle überall eskalieren, weil dann klar wird, wie hilflos Politik ist, unabhängig von den Parteinamen.

Dann erst ist die Endphase erreicht, in der eine weltweite Mega-Krise unvermeidlich wird. Bisher bemühen sich die internationalen Kapital-Eigner in einer ebenso seltsamen wie fatalen Glaubensgemeinschaft, die immense Verschuldung der USA (288% im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung) klein zu reden, das Gespräch darüber gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Erst wenn diese Zusammenhänge weltweit breitenöffentlich werden – nach der US-Wahl -, wird jedem klar sein, dass die US-Wirtschaft schlicht zu gross ist, als dass irgendjemand oder alle zusammen genug Geld hätten, um einen “Rettungsschirm” darüber aufzuspannen.

Spätestens an diesem Tag wird es wie beim Roulette heissen: Rien en va plus! Oder wie man in Aachen sagt: Rien ne plus, wa?

Lesen Sie dazu auch “Ratschläge aus Verschuldistan” und „Wer ist schuld an der Krise?“

Weiterdenken:
Der Tag nach dem Crash

„Ziviliert den Kapitalismus“ … vor 15 Jahren

Entfesselte Freiheit und Geld sind nicht genug. Plädoyer für einen neuen Bürgersinn

Während der Hitler-Zeit haben wir uns nach dem Rechtsstaat gesehnt, nach Freiheit und Gerechtigkeit. Hier, im östlichen Teil Deutschlands, hat man noch vierzig Jahre länger auf diese Segnungen warten müssen.

Schließlich war es eines Tages für uns alle soweit; doch nun entdecken wir, daß zwar die Voraussetzungen gegeben sind: Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Pluralismus, daß die Gesellschaft aber keineswegs so ist, wie wir sie uns gewünscht haben und wie wir sie auch nach dem Ende der totalitären Regime für selbstverständlich hielten.

Warum ist das so? Was fehlt denn? Worauf haben wir all die Zeit gewartet? Antwort: Auf die civil society, eine zivile Gesellschaft also. Aber was wir bekamen, ist eine reine Konsumgesellschaft, manche sagen, eine Raff-Gesellschaft.

Ich glaube, wir müssen uns über eins klar sein: Liberalismus und Toleranz, die Vorbedingungen der civil society, sind dem Menschen nicht von Natur aus angeboren, er muß erst dazu erzogen werden, durch Elternhaus, Schule und Gesellschaft. Die Eigenschaften Liberalismus und Toleranz wie auch die Bürgergesellschaft sind ein Ergebnis der Zivilisation. Erst die Aufklärung, der Ausbruch aus der, wie Kant sagt, „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, hat die Voraussetzungen für die Bürgergesellschaft geschaffen.

Rule of law, Gewaltenteilung, Pluralismus und Offenheit sind zwar Voraussetzungen, aber sie allein genügen nicht. Es kommt darauf an, was die Bürger daraus machen, auf ihre Gesinnung kommt es an, auf ihr Verhalten und darauf, wie sie ihre Prioritäten setzen. Also: Nicht nur die Regierungen tragen die Verantwortung, jeder einzelne Bürger ist für das Ganze mitverantwortlich.

Die Gesinnung der Bürger, das Klima in der Gesellschaft, hat sich in den verschiedenen Epochen immer wieder gewandelt. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert war Europa – ganz Europa – ein geistiger Raum, zu dem selbstverständlich Petersburg, Krakau und Prag genauso gehörten wie Rom oder Paris. Damals war Deutschland das geistige Laboratorium Europas, hier war die Heimat von Albert Einstein und Karl Marx, jenen Männern, die die Welt veränderten.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen dann Wissenschaft, Technik und die großen Erfindungen im Vordergrund. Und nun, in unserer Zeit, nach den beiden Weltkriegen, die so viel zerstört haben, sind es wirtschaftliche Interessen, auf die der Ehrgeiz gerichtet ist: GNP, Produktion, Handel und vor allem Geld. Deutschland ist von einer Kulturnation zu einer Konsumnation geworden.

Noch einmal die Frage: Warum ist unsere Gesellschaft so unbefriedigend, obgleich heute alles, was einen Rechtsstaat ausmacht, gewährleistet ist? Warum treten die Leute aus der Kirche aus? Warum verlieren Parteien und Gewerkschaften angestammte Mitglieder? Warum schimpfen die Bürger auf die Politiker und die Politiker auf die Medien? Kurz gesagt: Warum so viel Frust, wo es doch den meisten so gut geht wie nie zuvor?

Natürlich gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Wir stehen zweifellos an einer Zeitenwende, die durch Globalisierung, Computertechnologie und elektronische Informationspraktiken gekennzeichnet ist und die wahrscheinlich größere gesellschaftspolitische Veränderungen verursachen wird als seinerzeit das Hereinbrechen des technischwissenschaftlichen Zeitalters.

Wir sehen also einer Zeit neuer Ungewißheiten entgegen, und das macht angst. Im übrigen, was soll werden, wenn die Arbeitslosigkeit unaufhaltsam wächst, wenn Betriebe nur rentabel werden, indem sie Arbeiter entlassen, Städte nur saniert werden können, wenn sie Angestellte auf die Straße setzen? Ferner die quälende Frage: Was wird aus Rußland werden – drohen neue Gefahren im Osten?

Konkrete Probleme hat es immer gegeben. Heute aber gibt es noch etwas anderes, etwas Unwägbares, ganz und gar Unkonkretes, was die Menschen bedrückt, oft ohne daß sie sich darüber Rechenschaft geben. Alles Metaphysische, jeder transzendente Bezug ist ausgeblendet, das Interesse gilt ausschließlich dem wirtschaftlichen Bereich: Produzieren, Konsumieren, Geldverdienen. Eine Zeitlang war das ganz schön, aber dann spüren plötzlich viele: Dies kann doch nicht der Sinn des Lebens sein.

Allen großen Umbrüchen in der Geschichte sind neue philosophische Erkenntnisse vorausgegangen: Ohne Montesquieus Ideen ist die Französische Revolution nicht denkbar und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung auch nicht. Unser Zeitalter dagegen hat keine geistigen Voraussetzungen. Es gab nur Ideologien, und die sind auch noch pervertiert worden: Die konservative durch Hitler, der alle Wertvorstellungen der Rechten ad absurdum geführt hat, und die der Linken durch Stalins Brutalisierung des Sozialismus. Was übrigblieb, ist die Marktwirtschaft.

Als Wirtschaftssystem ist die Marktwirtschaft unübertroffen. Für eine Sinngebung hingegen reicht sie wirklich nicht aus. Sie ist sehr possessiv. Die Marktwirtschaft beansprucht den Menschen ganz und duldet keine Götter neben sich. Ihr Wesen ist der Wettstreit und ihr Motor der Egoismus: Ich muß besser sein, mehr produzieren, mehr verdienen als die anderen, sonst kann ich nicht überleben. Die Konzentration auf dieses Prinzip hat dazu geführt, daß alles Geistige, Kulturelle an den Rand gedrängt wird und schließlich immer mehr in Vergessenheit gerät.

Dieser Zustand ist im wesentlichen auf das Zusammenwirken von Säkularisierung und Kapitalismus zurückzuführen, aber es wäre grundverkehrt, nun zu meinen, man könne die Säkularisierung rückgängig machen – das ist unmöglich. Allerdings ist in den letzten zweitausend Jahren die Religion schon mehrfach abgeschafft worden, das letzte Mal zugunsten der Vernunft während der Aufklärung. In Notzeiten aber haben die Menschen sich ihrer dann erinnert und ihr den legitimen Platz wieder eingeräumt.

Was den Kapitalismus und die Marktwirtschaft angeht, so muß man sie unter allen Umständen erhalten und sie nicht abschaffen wollen – sie müssen nur sozusagen zivilisiert werden. Grenzen müssen gesetzt werden: Freiheit ohne Selbstbeschränkung, entfesselte Freiheit also, endet auf wirtschaftlichem Gebiet zwangsläufig in einem Catch-as-catch-can und schließlich in dem Ruf nach einem „starken Mann“, der alles wieder richten soll. Im Osten, wo man dies – am deutlichsten in Rußland – beobachten kann, hat man gesehen, daß es keinen Sinn macht, im Kopfsprung aus einer gelenkten Wirtschaft in die freie Marktwirtschaft zu springen und aus einer autoritären Gesellschaft in eine permissive society.

Notwendig ist, daß zuvor gewisse politische Strukturen gesetzt werden. Sonst ist die Folge – wie Rußland zeigt – das Überhandnehmen der Mafia, denn die Rücksichtslosen, die Schlitzohren und die potentiellen Verbrecher, das sind diejenigen, die sich als erste bedenkenlos bedienen.

Aber nicht nur im Osten, auch im Westen sehen wir die Folgen einer Lebensweise, die nur auf den Eigennutz gestellt ist, ohne Verantwortung für das Ganze. Eine Entfesselung aller Begierden ist unvermeidlich: Nie zuvor hat es so viel Korruption bis in die höchsten Kreise gegeben, überall in Europa werden Minister wegen Korruption aus den Kabinetten entlassen, in Italien wurde ein Ministerpräsident zu acht plus fünf Jahren verurteilt, und in Deutschland wird zur Zeit gegen 1860 Ärzte wegen Bestechlichkeit ermittelt. Der Oberstaatsanwalt von Frankfurt am Main erklärte kürzlich, daß in seinem Amtsbezirk seit 1987 1500 Manager und höhere Beamte (meist solche, die für die Erteilung von Genehmigungen zuständig sind) wegen Bestechlichkeit untersucht wurden.

Erst vor vierzehn Tagen wurden der Vorstandsvorsitzende von Thyssen und fünf Personen aus der obersten Etage des Konzerns wegen Korruptionsverdachts verhaftet und nur gegen Kaution wieder freigesetzt. Und in Recklinghausen wurde in dieser Woche der vierzehnte Mitarbeiter der Stadtverwaltung wegen des Vorwurfs der Bestechlichkeit festgenommen.

Das normale Rechtsempfinden, das Gefühl für das, was man tut und nicht tut, ist durch das Fehlen ethischer Grundsätze und moralischer Barrieren so verkümmert, daß man sich fragen muß: Kann eine Gesellschaft unter solchen Umständen überhaupt leben?

Zu allen Zeiten hat es stets jenseits des sachlich-positivistischen etwas gegeben, was die Gesellschaft zusammenhielt. In den primitiven Gesellschaften waren es der Ahnenkult oder irgendwelche Traditionen, später dann Religion oder das Bewußtsein gemeinsamer Kultur. In jedem Fall gab es immer etwas, das Verhaltensnormen schaffte, denn ohne sie kann eine Gesellschaft nicht existieren.

Ohne einen ethischen Minimalkonsens wird auch die Brutalisierung des Alltags immer weiter zunehmen; schon heute vergeht kein Tag, an dem die Zeitungen nicht berichten, daß jemand erschossen worden ist, weil er irgendeinem im Wege stand. Oder daß Kinder einen Obdachlosen töteten, um mal zu sehen, wie das ist, oder Halbwüchsige einen Farbigen erschlagen, weil der angeblich hier nichts zu suchen hat.

Daß es so nicht weitergehen kann, ist klar, das Problem ist nur, auf welche Weise können ethische Werte wieder inthronisiert werden – Autorität hilft da wenig und Verordnungen auch nicht. Gibt es überhaupt noch ein potentielles Reservoir an Gemeinschaftsgefühl, das wieder aktiviert werden könnte?

Ich meine, jene Lichterketten, die Millionen von Bürgern bildeten, um gegen die Ausländerfeindlichkeit zu demonstrieren, beweisen, daß Solidarität sehr wohl aktiviert werden kann. Und auch das immer wieder laut werdende Verlangen nach Partizipation, nach mehr Teilnahme an Entscheidungen, macht dies deutlich. Denn es ist ja nicht so, daß die Bürger der Politik überdrüssig sind. Sie finden nur, daß die Politiker engagierter und entschiedener handeln sollten.

Eines allerdings muß man wissen. Es gibt kein System, das eingeführt, keine Aktion, die gestartet werden könnte, um die notwendige Bewußtseinsveränderung hervorzubringen. Sie kann nur durch die Bürger selbst zustande gebracht werden. Es kommt wirklich auf uns an, auf jeden einzelnen von uns.

Auszug aus der Dankesrede 1996, die Marion Gräfin Dönhoff  in Dresden aus Anlaß der Verleihung des Erich-Kästner-Preises hielt.